Überlegungen zu Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit Von unserem Mitglied Dr. Richard Grimm Typisch für die weit verbreitete Überzeugung, Wirtschaftswachstum sei ein, wo nicht gar das einzige Mittel gegen Arbeitslosigkeit, sind Äußerungen des BDI-Präsidenten Rogowski. Er meinte, "um am Arbeitsmarkt nennenswert etwas zu bewegen, seien über einen längeren Zeitraum mindestens drei Prozent pro anno nötig". Hätte der Präsident recht, dann müssten die Arbeitslosen jede Hoffnung fahren lassen, denn: Das jährliche deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP, hier berechnet auf Preise von 1995 und das Wirtschaftsgebiet Gesamtdeutschland) stieg zwischen 1950 und 2002 von 291 auf 1984 Milliarden Euro an, das heißt um 32,6 Mrd. pro Jahr. Das ist der langjährige Durchschnitt. Da das Volkseinkommen aus einer Vielzahl weitest verzweigter Quellen entsteht, sind die wirklich eintretenden Jahreswerte Zufallszahlen. Sie können nicht vorausberechnet werden und gruppieren sich um den genannten Mittelwert von 32,6 Mrd Euro so wie es Anfang des 19. Jahrhunderts von dem Mathematiker Gauss in Form seiner bekannten Glockenkurve beschrieben wurde. Der von Rogowski herbeigewünschte Zuwachs von "mindestens drei Prozent pro anno" würde auf heutiger Basis als absolute Zahl fast 60 Mrd Euro pro Jahr betragen. Nach Gauß errechnet sich für alle Werte ab 54 Mrd pro Jahr (Mittelwert plus Standardabweichung) eine Eintrittswahrscheinlichkeit von etwa 1/6. Ein so großes Wachstum "über einen längeren Zeitraum" von beispielsweise drei bis fünf aufeinanderfolgenden Jahren, wäre also im Durchschnitt alle 216 bis 7776 Jahre zu erwarten. In den letzten Jahrzehnten ist ein derartiger Fall auch nie aufgetreten. Weil die jährlichen Werte des Wirtschaftswachstums Zufallszahlen sind, kann das Wachstum eines bevorstehenden Jahres nicht vorhergesagt werden. Der wahrscheinlichste Fall ist stets, daß das Folgejahr anders liegt als das laufende. Die Schlussfolgerung von einem Jahr auf das nächste ist sinnlos. Dementsprechend begannen beispielsweise die Schätzungen für das Jahr 2002 im Frühjahr 2001 mit der Zahl 2,8 % , offenbar inspiriert von den 3 % des Jahres 2000. Im Lauf der Zeit wurde der Wert stufenweise abgesenkt bis auf die wirklichen 0,2 %. Diese wurden allerdings erst veröffentlicht, als das Jahr so gut wie gelaufen war. Die so genannten Wirtschaftsweisen könnten sich mit ähnlicher Treffsicherheit auch an den Lottozahlen versuchen. Wichtiger ist die Frage, ob Wirtschaftswachstum überhaupt gegen Arbeitslosigkeit helfen kann. Die Koppelung von wachsender Wirtschaftsleistung und Rückgang der Arbeitslosenzahl gab es nur in der Frühzeit der Bundesrepublik von 1950 bis 1962. Damals sank das Jahresmittel der Zahl der Arbeitslosen von 1,9 bis auf 0,16 Millionen. In der Folgezeit gab es in jedem Jahrzehnt ein "Rezessionsjahr" mit einmalig negativem Wirtschaftswachstum zwischen -0,3 und -1,1 Prozent, nämlich 1967, 1975, 1982 und 1993. In der ersten Rezession 1967 stieg die Zahl der Arbeitslosen von 0,16 auf 0,46 Millionen an und wurde im Verlauf von drei weiteren Jahren wieder auf sensationell geringe 0,15 Millionen abgebaut. Das Ganze geschah bei insgesamt wachsendem Bruttoinlandsprodukt. Auf diesem Stand der Erkenntnis befindet sich der BDI-Präsident noch heute. Ab 1970 stieg die Arbeitslosenzahl trotz weiter zunehmendem BIP wieder an, und zwar nicht gleichmäßig, sondern in mehrjährigen Schüben. Innerhalb dieser Schübe lag jeweils ein Rezessionsjahr. Bei jedem Schub nahm die Arbeitslosenzahl stärker und länger zu, nämlich 1973-75 um 0,8 Mio, 1980-83 um 1,4 Mio und 1990-94 um 1,8 Mio (letztere Zahl unter erstmaliger Einbeziehung der neuen Länder). Nach dem Ende einer Rezession und Rückkehr zum normalem Wirtschaftswachstum ging die Arbeitslosenzahl jedesmal zurück, aber nur in so geringem Maße, dass sich von 1970 bis 2002 per Saldo der Anstieg von 0,15 auf ca. 4 Millionen ergab. Von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass bei allen vier Rezessionen der Anstieg der Arbeitslosigkeit bereits vor dem Jahr mit negativem Wachstum einsetzte. Das heißt: Nicht eine vorübergehende Verkleinerung des BIP hat den Anstieg der Arbeitslosigkeit verursacht, sondern umgekehrt. Die Deutung dieser Vorgänge ist naheliegend: In der Aufbauphase der Bundesrepublik wurde Wirtschaftswachstum vorwiegend durch Vergrößerung der Belegschaften erzielt. Später erfolgte die Bereitstellung von immer mehr und immer billigeren Produkten überwiegend durch Automatisierung und Rationalisierung. Dadurch wurden laufend bestimmte Arbeitsplätze und Produktionsanlagen überflüssig. Verständlicherweise ergreift die Wirtschaft so einschneidende Maßnahmen wie betriebsbedingte Kündigungen, Teilstillegungen, Unternehmensübernahmen oder Insolvenzanträge erst dann, wenn das wirtschaftliche Überleben anders nicht mehr zu erreichen ist. So kam es im Abstand von 7 bis 11 Jahren zu dem wiederholten Ansteigen der Arbeitslosenzahl und einem Rückgang des Wirtschftswachstums bis auf etwa -1 %. War die Rentierlichkeit der Unternehmen nach einem Rezessionsjahr wieder hergestellt, dann setzte rasch neues Wachstum ein. Dagegen blieb nach jeder Wirtschaftskrise ein zusätzliches Kontingent von Dauer-Arbeitslosen übrig, deren Können oder Altersgruppe nicht mehr gefragt war, und die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Da unser Steuersystem menschenfreundlich aber störanfällig so ausgelegt ist, dass Personen und Unternehmen die weniger verdienen auch weniger Steuern zahlen müssen, und da es in den öffentlichen Haushalten keine Rücklagen mehr gibt, fehlen dem Staat die Finanzmittel genau dann, wenn ein neuer Schub Arbeitsloser versorgt werden muss. Die immer größer werdende Zahl der Arbeitslosen und die Hilflosigkeit der Politik diesem Problem gegenüber führt in der Bevölkerung zu Existenzangst und Konsumzurückhaltung. Sie ist möglicherweise auch eine der Ursachen des Geburtenrückganges. Die Politik versucht, dem Geldmangel in den öffentlichen Kassen durch höhere Verschuldung, der Abnahme der Einwohnerzahl durch Einwanderung zu begegnen. Es werden aber auch, so wie beispielsweise durch Rogowski, Unternehmer und Regierung gebieterisch zu mehr Wirtschaftswachstum aufgefordert, um Arbeitslose in Beschäftigung zu bringen. Den Wachstums-Befürwortern ist nicht klar, dass sie damit die Zwickmühle von Automatisierung und weiterer Freistellung von Arbeitskräften erst recht antreiben. Da eine Bundesregierung nur einen Planungshorizont von maximal vier Jahren hat und die jeweilige Opposition überhaupt keinen, werden die langfristigen Folgen all dieser Maßnahmen in der Politik nicht bedacht oder zumindest nicht diskutiert. Für die nächste Zukunft verheißt die historische Betrachtung wenig Gutes: Vom Zeitabstand her könnte mit dem gerade jetzt zu verzeichnenden erneuten Anstieg der Arbeitslosigkeit eine weitere Rezession begonnen haben. Würde eine solche analog derjenigen von 1993 ablaufen, dann kämen wir im Jahr 2005 auf ca 5,7 Millionen Arbeitslose, hätten aber ein höheres BIP als im Jahr 2002. Ein Vergleich mit der historischen Wirtschaftskrise von 1928 bis 1932 wäre trotzdem nicht angebracht, denn damals schrumpfte das Nationalprodukt in vier aufeinanderfolgenden Jahren um insgesamt 16%. Wenig zuversichtlich stimmt die Fixierung der Politiker und Wirtschaftsmanager auf die Vorstellung, dass unser aller Wohl und Wehe von plus drei oder minus ein Prozent BIP-Wachstum abhinge. Was würde man von einem Mitbürger denken, der in Verzweiflung geriete, weil das Einkommen seiner Familie von hunderttausend Euro pro Jahr (so groß ist ungefähr der rechnerische Anteil einer vierköpfigen Familie am Bruttoinlandsprodukt) auf neunundneunzigtausend gesunken sei, anstatt wie erhofft auf hundertdreitausend zu steigen! Das Zahlenbeispiel zeigt, dass nicht das Wachstum des Volkseinkommens, sondern dessen Verwendung unser Problem ist. Wachtsumsfetischisten wie Rogowski setzen den Hebel an der verkehrten Stelle an. Reformen sind dringend nötig, die Reformbewegung gibt es derzeit noch nicht. (25.2.2003) Abb. 1 Die senkrechte Achse ist logarithmisch geteilt. Eine bestimmte Strecke auf der Achse entspricht einem bestimmten Faktor. Gleichbleibendes prozentuales Wachstum ergibt eine Gerade. Den dargestellten Zahlen liegen die vom Statistischen Bundensamt in Wiesbaden veröffentlichten Zeitreihen zugrunde. Auf der waagerechten Achse sind in diesem und den folgenden Diagrammen die Jahre 1950 bis 2002 aufgetragen (als Jahreszahl minus 1900). Kurve 1 Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Mrd Euro pro Jahr, in konstanten Preisen von 1995, umgerechnet auf das Wirtschaftsgebiet Gesamtdeutschland. Da das BIP nicht um einen bestimmten Prozentsatz pro Jahr wächst, wie oft vermutet wird, verläuft die Kurve nicht geradlinig. Kurve 2 Die Kaufkraft unserer Währung in Prozent von Niveau 1995. Im Jahr 1950 konnte man für eine DM fast fünfmal so viel kaufen wie 1995. Bis in die neunziger Jahre nahm die Kaufkraft ständig ab. Erst im Vorfeld der Euro-Einführung blieb die Währung bemerkenswert stabil. Kurve 3 Summe der Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden (letzere ohne GmbH's) in Mrd Euro. Zu Adenauers Zeiten begannen die Kurven 1 (BIP) und 3 (Schulden) bei etwa 300 bzw. 10 Mrd. Die öffentlichen Schulden betrugen somit etwa ein dreißigstel des jährlichen Bruttoinlandsproduktes. Bei den Schulden erreichten wir jedoch mühelos, was wir beim BIP so gerne hätten: ein langfristig konstantes Wachstum um etwa 10 bis 11 Prozent pro Jahr. Deswegen verläuft Kurve 2 im logarithmischen Diagramm im wesentlichen gerade und nähert sich immer mehr der BIP-Kurve. Im Jahr 1995 schneidet die Schuldenkurve die Linie 1000, die BIP-Kurve hat die Linie 2000 noch nicht ganz erreicht. Das heißt, die Summe der öffentlichen Schulden hat sich seit Adenauer von einem dreißigstel des jährlichen Brutto-Inlandsprodukt bis auf mehr als die Hälfte desselben gesteigert. Ab 1995 verlangsamte sich diese Entwicklung, vermutlich durch die Planungen für den Euro. Anderenfalls stünden heute Schulden und BIP bei eins zu eins. Erfreulicher Weise kam auch der Kaufkraft-Schwund der Währung zum Stillstand. Wer jetzt nach höherer Staatsverschuldung ruft, gefährdet diese Vorteile. Kurve 4 Das relative Wachstum des BIP in % pro Jahr. Da die jährlichen Wachstumswerte Zufallszahlen sind, die sich in der Normalverteilung (Gauß-Kurve) um das langjährige Mittel gruppieren, hat ihre Verbindungslinie einen unstetigen Verlauf. Man erkennt jedoch, dass im Verlauf der Jahrzehnte die Prozentwerte insgesamt kleiner wurden, was in dem flacher werdenden Verlauf von Kurve 1 seine Entsprechung hat. Das logarithmische Diagramm zeigt, wie sehr die Rezessionsjahre 1967, 1975, 1981 und 1993 nach unten aus dem üblichen Rahmen fallen, weil es sich dabei nicht um normale Zufallswerte handelt, sondern um Folgen der gegenseitigen Verstärkung von Anstieg der Arbeitslosigkeit, Rückgang der Steuereinnahmen, Krisenstimmung und Konsum-Zurückhaltung. Da Null und negative Werte im logarithmischen System nicht darstellbar sind, wurden sie hier gleich 0,1 gesetzt. Der Wert für 2002 beträgt bekanntlich 0,2 %. Ob es sich dabei um den Beginn einer neuen Rezession handelt, oder um einen einmaligen, besonders niedrigen Wert, läßt sich anhand der vorliegenden Daten nicht entscheiden. Bekanntlich neigen die Wirtschaftsfachleute für 2003 eher zu einer reduzierten Erwartung. Kurve 5 Die Zahl der Arbeitslosen in Millionen im Jahresdurchschnitt. Man erkennt den stufenweisen Anstieg im Zusammenhang mit den Einbrüchen des Wirtschaftswachstums (Kurve 4). Bei der ersten Rezession von 1967 bildete sich die Arbeitslosigkeit nach Eintritt der gewohnten Verhältnisse wieder vollständig zurück, bei den späteren Rezessionen nur noch in geringem Maße. Wichtig ist, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit stets v o r dem Jahr mit negativem Wachstum einsetzte. Die oft anzutreffende Vorstellung, wonach ein Rückgang des BIP die Zunahme der Arbeitslosenzahlen verursachen würde, ist somit falsch. Es ist eher umgekehrt! Welchen Verlauf der Arbeitslosen-Kurve sich die Wirtschaftssachverständigen unter dem Schlagwort "Abbau der Arbeitslosigkeit durch Wirtschaftswachstum" eigentlich vorstellen, ob einen Rückgang auf die Werte der achtziger, siebziger oder gar der sechziger Jahre, ist nicht bekannt. Linien P Ein schwarzer Balken bedeutet eine CDU-geführte, ein roter eine SPD-geführte Regierung. Es fällt schwer, einer bestimmten Partei deutlich größere Wirtschaftskompetenz zuzusprechen als den anderen. Sicher ist nur, dass die Eigendynamik der Wirtschaft wirkungsvoller ist als der Einfluss der Politik. Die Abflachung der Schuldenkurve und der geringere Kaufkraftverlust der neunziger Jahre entstand unter Kohl und wurde unter Schröder fortgesetzt. Ursache ist jedoch nicht eine besondere Einsicht der jeweiligen Regierung, sondern die sich Abzeichnende Einführung der Europäischen Währung. Link: Überlegungen zu Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit - Teil 2Zum gleichen Thema:
|
Kommentar senden | Zur Startseite |