Überlegungen zu Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit - Teil 2

Von unserem Mitglied Dr. Richard Grimm

Die Bundes-Wirtschaftsexperten vertreten mehrheitlich die Thesen

(1) Wir brauchen künftig mindstens drei Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr, und das über einen längeren Zeitraum.

(2) Wir hatten in der Vergangenheit ein so hohes Wirtschaftswachstum und sollten es wieder erreichen.

(3) Nur durch Wirtschaftswachstum entstehen zusätzliche Arbeitsplätze.

Nach meiner Meinung sind alle drei Thesen falsch. Ich führe folgende Gründe an:


Zu (1)

Auf dem Diagramm Abb. 2.11 ist die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes BIP, (preisbereinigt und bezogen auf das Wirtschaftsgebiet Gesamtdeutschland, nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes) für die Jahre 1950 - 2002 dargestellt. Es wuchs in diesem Zeitraum linear von etwa 300 auf 2000 Mrd EUR.

Die jährliche Veränderung des BIP, das vielzitierte "Wirtschaftswachstum" ist eine Zahl vom langjährigen Durchschnitt M = 32,6 Mrd Euro pro Jahr. Seine Darstellung (in 10-facher Vergrößerung) ergibt die schwarze Zickzack-Linie. Deren eigentümlicher Verlauf weist auf eine sogenannte Zufallsverteilung hin. Eine solche tritt immer dann ein, wenn ein Meßergebnis durch viele, von einander unabhängige Ursachen bestimmt wird. Diese Wahrscheinlichkeitsverteilung wurde bei der Aufarbeitung von Zahlen der preußischen Landvermessung im 19. Jahrhundert erstmalig studiert und als "Gauß'sche Glockenkurve" bekannt. Sie gilt beispielsweise auch für Unfallzahlen, Maßabweichungen von Werkstücken und vieles andere.

Je größer die Zahl der Meßwerte, desto enger nähert sich deren Mittelwert der Zahl M. Etwa zwei Drittel aller Meßwerte liegen innerhalb der Grenzen, die im Diagramm mit (+) und (-) bezeichnet sind.

Von einem Wachstumswert kann nicht auf den des folgenden Jahres geschlossen werden. Der wahrscheinlichste Fall ist, dass der Folgewert anders ist als der vorhergehende. Das ist der Grund für die Schwierigkeiten der "Wirtschaftsweisen" bei ihren Wachstumsvorhersagen: Erst gegen Ende eines Berichtsjahres ist abzusehen, welche Größe das Wirtschaftswachstum erreichen wird. Erst dann verkünden die Sachverständigen auch ihre endgültige Zahl, die meist nicht oder nur per Zufall mit den ersten Schätzwerten übereinstimmt.

Man erkennt im Diagramm die Abnahmen des BIP in den Krisenjahren 1967, 75, 82 und 93 durch Spitzen bis unter die Null-Linie. Die Frage ist, ob 2003 wieder ein Rezessionsjahr wird.

Ab 2003 wurde im Diagramm ein hypothetischer Verlauf des Wirtschaftswachstums, entsprechend der Wunschvorstellung von "regelmäßig plus drei Prozent pro Jahr" dargestellt. Während das Bruttoinlandsprodukt in der Realität etwa 31 Jahre brauchte um von 1000 auf 2000 Mrd Euro zuzunehmen (siehe die senkrechten Striche in Abb. 2.11), würde durch den Übergang auf das drei-Prozent-Modell die Grenze von 3000 Mrd schon nach 13 Jahren überschritten. Nach weiteren 9,7 Jahren wären 4000 Mrd erreicht und so fort. Das lineare Wachstum würde in ein exponentielles, das heißt ein immer schneller werdendes, übergehen.

Wer dergleichen für möglich hält, müßte triftige Gründe für die grundsätzliche Änderung der bisher wirksamen Wirtschaftsfaktoren nennen. Hinweise auf geplante "Reformen" oder "Steuersenkungen" reichen da bei weitem nicht!

Viel wahrscheinlicher wäre die Annahme, dass nach dem enormen Aufschwung von Wirtschaft und Technik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die allmählich wirksam werdenden Grenzen der Ressourcen das weitere Wachstum zunehmend behindern. Deswegen sollte man statt utopischer Wachstumsfantasien besser Maßnahmen für den Fall entwerfen, dass die Wirtschaftskraft langsamer zunehmen oder gar abnehmen könnte.

Zu (2)

Eine Prozentzahl ist eine unbenannte mathematische Größe. Das heißt, einerlei ob es sich um Euro, Megawattstunden, Tonnen, Arbeitslosenzahlen oder anderes handelt, etwaige Veränderungen können stets in Prozenten angegeben werden. Deshalb wird die Prozentzahl von Generalisten so gerne verwendet. Wenn aber ein System nicht exponentiell sondern linear wächst, dann bedeutet gleichbleibendes Wachstum eine mit der Zeit abnehmende Prozentzahl. Es gab zu Adenauers Zeiten Wachstumswerte bis 11 (!) Prozent, beispielsweise 1955, als das Wachstum von 50 Mrd auf ein BIP von 460 Mrd bezogen wurde. Im Jahr 2000 hatten wir ein sogar noch höheres Wachstum von 57 Mrd, das jedoch von dem inzwischen auf 1969 Mrd gestiegenen BIP nur noch ca 3 Prozent ausmachte.

Wenn wir unbedingt an historische Wachstumswerte von 3% anknüpfen wollten, müßten wir auf Willy Brand zurückkommen, nicht weil spätere Bundeskanzler in Sachen Wirtschaftswachstum weniger erfolgreicher gewesen wären, sondern weil zu Brands Zeit das BIP etwa 1000 Mrd erreicht hatte und das durchschnittliche Wachstum M = ca. 32 Mrd ungefähr drei Prozent davon ausmacht.

Zu (3)

Der Behauptung, Wirtschaftswachstum würde zusätzliche Arbeitsplätze erzeugen, steht entgegen, dass von 1970 bis 2002 die Zahl der Arbeitslosen von 0,15 auf 4,05 Millionen anstieg, obwohl das Bruttoinlandsprodukt in dieser Zeitspanne von 987 auf 1984 Mrd Euro wuchs, was bei exponentiellem Wachstum durchschnittlich 2,2 Prozent pro Jahr ausgemacht hätte. Die Wachstumsanhänger hätten nun zu erklären, warum bei 2,2 Prozent Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit 32 Jahre lang zunahm, bei künftig 3 Prozent (sofern man sie erreichen könnte) aber zurückgehen würde.

In Wirklichkeit sind Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit die gute und die schlechte Seite eines anderen, dritten Faktors, nämlich der Automatisierung und Rationalisierung. Leute, die intensiver in das Wirtschaftsgeschehen eingebunden sind als Lobbyisten und Regierungsberater, wissen das längst. Nach einem FAZ-Bericht vom 11.12.2002 haben die Herren Voscherau und Oswald (Vorstand und Betriebrats-Vorsitzender des Chemiekonzerns BASF) darauf hingewiesen, dass "wohl auch bei der BASF der Produktivitätsfortschritt langfristig mehr Arbeitsplätze kostet als durch Wachstum neu geschaffen werden können." Diese Erkenntnis könne nicht übersehen werden, und so gehe es darum, alle Instrumente einzusetzen, um negative Auswirkungen auf ein geringes Maß zu reduzieren, so Voscherau und Oswald. Allerdings wird diese Erkenntnis eben doch übersehen und zwar gerade von den Experten, bei denen sich die Bundesregierungen Rat holen.

Das zufallsbedingte Auf und Ab des Wirtschaftswachstums, wie es aus dem Diagramm hervorgeht, dürfte kaum die von den jeweiligen Wirtschaftsexperten empfohlenen Maßnahmen widerspiegeln, sondern vielmehr die eigenen Gesetzmäßigkeiten der Volkswirtschaft. Daran wird sich voraussichtlich nichts ändern. Es muß daher auch für die Zukunft angenommen werden, dass es Jahre mit zufällig hohem, geringem oder negativem Wachstum geben wird, dass Wirtschaftswachstum überwiegend durch höhere Produktivität und nicht durch mehr Beschäftigte erzeugt wird, und dass die Arbeitslosenzahlen dem entsprechend weiterhin steigen werden.

Die Regierungen und Regierungsberater werden nach wie vor auf Wirtschaftswachstum fixiert bleiben anstatt im Sinne von Voscherau und Oswald alle Instrumente einsetzen, um negative Auswirkungen der zwangsläufig steigenden Arbeitslosigkeit zu reduzieren. (25.3.2003)

Link: Überlegungen zu Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit - Teil 1

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